Die Sommerschule befand sich in ihren letzten Zügen und alle Beteiligten wollten unbedingt, dass die Zeit zu einem guten Ende kommen würde. Deshalb holte ein Jeder seine letzten Kraftreserven heraus und bemühte sich die Müdigkeit zu verdrängen.
Der Donnerstag stand unter einem ganz neuen Aspekt. Wir trafen uns an der Polytechnischen Universität in Odessa und bekamen von verschiedenen Dozenten Input zu aktuellen soziolinguistischen Forschungsmethoden. Neben Regina Uhlen und Cédric Reichel, war noch ein dritter Referent anwesend, Camillo aus Österreich, der im Rahmen seiner Dokorarbeit in der Region um Odessa forscht. Nachdem uns mehrere Methoden vorgestellt wurden, ging es darum in Kleingruppen Ideen für kleine Feldforschungen zu sammeln und die passende Methode zu wählen. Zur Wahl standen unter Anderem die Linguistic Landscape-Forschung, qualitative Interviews, Fotodokumentation, Sprachnutzungsverhalten usw... Die Gruppen fanden sich schnell und auch an Themen mangelte es nicht. Dann wurde die Feldforschung für den folgenden Tag vorbereitet. Auf den Donnerstagabend hatten wir uns alle lange gefreut und uns darauf vorbereitet. Die Idee nannte sich „Sound of Heimat“. Jeder sollte ein Lied von zu Hause mitbringen, das ihn oder sie an seine /ihre Heimat erinnert oder eine besondere Bedeutung hat. Zuerst aber suchten wir uns einen schönen einsamen Platz am Strand. Anschließend organisierten wir Pizza, was Dank unserer odessitischen Teilnehmerinnen organisiert wurde und genossen den Sonnenuntergang. Wir richteten uns den Platz schön ein und jeder spielte nacheinander sein Lied vor. Verschiedene luden zum Mitsingen ein, andere enthielten eine Geschichte und teilweise wurde auch A Capella gesungen. Der Abend war lang, besinnlich und emotional. Wir waren endgültig in Odessa angekommen. Der Freitag war für uns alle eine kleine Sensation, weil wir frei hatten, zumindest theoretisch. Wir sollten natürlich unsere Feldforschung durchführen, hatten aber dafür den ganzen Tag Zeit. Abends gab es noch eine kleine „Evening Lecture“ zum Thema „odessitische städtische Identität“, in Form einer Diskussion zwischen zwei odessitischen Forschern. Es entwickelte sich eine interessante Diskussion bei Tee, Kaffee und kleinen Häppchen. Die Veranstaltung fand im Impact Hub Odessa statt, einem Shared Space mit Coworking Zone nach amerikanischem Vorbild. Der Samstag sollte der letzte offizielle gemeinsame Tag sein. Deshalb trafen wir uns bereits früh an der Polytechnischen Universität, um unsere Feldforschungsergebnisse auszuwerten und zu visualisieren. Trotz logistischer Probleme konnten wir schlussendlich eine Vorstellung und Präsentation aller Gruppen durchführen. Es war beeindruckend zu sehen, dass trotz der offensichtlichen Müdigkeit und Erschöpfung, alle Gruppen tolle Ergebnisse präsentieren konnten. Beispielsthemen sind „Sichtbarkeit des odessitischen Dialektes“, „Interviews in einem Hinterhof eines Wohnblocks“ oder „Bestandsaufnahme der odessitischen Straßenkunst“. Nach einem ruhigen und stärkenden Mittagessen wurde am Nachmittag die Sommerschule durch mehrere Evaluationsmethoden und Feedbackrunden beendet. Gruppenspiele wurden beendet, Zertifikate ausgeteilt und Geschenke ausgetauscht. Anschließend ging es noch kurz ins Hostel, um sich umzuziehen und für den Abend zurechtzumachen. In der Nähe des Strandes hatten die odessitischen Teilnehmerinnen mit Cédric ein Restaurant ausgesucht, wo auf uns ein üppiges, typisch ukrainisches Abendessen wartete. Satt aber glücklich zogen wir weiter in eine Strandbar und stoßen auf die intensiven letzten 17 Tage an. Wer noch nicht wegmusste oder weitergezogen war, traf sich noch am Sonntagmorgen zum Frühstück. Auf jeden Fall war die Sommerschule zu Ende und die nächsten Tage sollte langsam wieder Normalität einkehren.
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Dienstag, am 5. September gegen 7:00 sind wir mit dem Zug in Odessa gut angekommen. Nach der langen Reise inkl. Party waren alle müde. Nun sind wir aus dem Zug ausgestiegen, haben uns in kleine Gruppen geteilt und mit dem Taxi zum ,,Dream Mini Hostel Odessa“ gefahren. Da viele von uns große Koffer hatten, war es kompliziert ein Taxi zu finden. Man musste ab und zu mit den Taxifahrern handeln, und es ist etwas chaotischer gelaufen aber interessant.
Die Koffer haben wir ins Hostel gebracht, noch nicht mal ausgepackt und sind dann alle gemeinsam in eine Kneipe zum Frühstück gegangen. Vor der Kneipe hat sich unsere Gruppe geteilt, weil einige anstatt zu frühstücken, trotz der langen Fahrt, eine Runde durch die Stadt machen wollten- die Faszination von Odessa war schon zu fühlen. An demselben Tag, am Nachmittag gegen 15 Uhr haben wir uns vor dem Theater mit der Reiseführerin Elvira Plesskaja getroffen. Elvira Plesskaja ist Vertreterin des Rats der Deutschen der Ukraine im Gebiet Odessa, Mitglied der internationalen Assoziation der Forscher der russlanddeutschen Geschichte und Kultur. Da Frau Plesskaja nicht Deutsch spricht, hat Sie uns alles auf Russisch erzählt und weil Viele von der Gruppe kein Russisch kennen, hat uns Anna, die Ukrainerin, alles von Russisch auf Deutsch übersetzt. Frau Plesskaja hat uns viele Ereignisse aus der Geschichte über Odessa erzählt. Angefangen mit dem Denkmal des Herzogs Richelieu, der ein wichtiger Stein für die Gründung von Odessa getan hat (auch unter seiner Regierung kamen die ersten deutschen Einwanderer die sich in der Stadt und in der Schwarzmeerregion ansiedelten), über die Architektur der Stadt, Entwicklung und viele andere Ereignisse. Für einige von uns die schon paar Mal in Odessa waren, war es gut die Stadt mal ein bisschen anders zu sehen. Anschließend sind wir gemeinsam ins deutsche Kulturzentrum gegangen. Da haben wir uns über die deutsche Minderheit in Odessa und andere Regionen aus der Ukraine und Russland unterhalten. Zur Diskussion waren auch andere spannende Themen gestellt. Wir waren echt beeindruckt, viele von uns hätten längere Zeit da verbringen können. Es war fast dunkel draußen als wir das Kulturzentrum verlassen haben. Eine kleine Gruppe ist zum Strand gegangen, die meisten aber gingen erst in die Stadt, um dort zu Essen und den Abend in einer schönen Atmosphäre zu verbringen, danach ins Hostel. So verging der erste Tag in Odessa und ein weiterer schöner Tag der Sommerschule. Der zweite Tag in Odessa (Mittwoch, der 6. September) war für die Erkundigung des jüdischen Odessa gewidmet. Der Tag hat mit der ,,Führung durch das jüdische Odessa’’ angefangen, mit Frau Elena Karakina - eine sehr nette, kluge Frau mit ein bisschen Humor. Sie hat uns über die jüdische Gemeinschaft in Odessa erzählt, besonders die Geschichte der Juden seit dem sie in Odessa angesiedelt sind bis zur heutigen Zeit. An dem Tag haben wir das jüdische Volk näher kennengelernt, welche Rolle die Juden in Odessa gespielt haben und nicht nur in Odessa, wichtige Personen die jüdisch stämmig waren, uns wurde noch mal erwähnt wie stark die Religion früher die Menschen beeinflusst hat. Wir haben erfahren, dass es in Israel bis heutzutage ein spezielles Viertel: Меашарим gibt, wo das Leben ähnlich wie damals ist, als die jüdische Gemeinschaft dort lebte. Um ein besseres Gefühl für die jüdische Gemeinde zu bekommen, haben wir auch eine jüdische Synagoge besichtigt. Gegen Mittag besuchten wir das jüdische Museum Odessa was uns die Kenntnisse über das Leben der Juden weiter vertieft hat. Danach sind wir gemeinsam ins jüdische Kulturzentrum ,,Migdal’’ gegangen, das seit 25 Jahren existiert. Es wurde teilweise renoviert, teilweise nicht. Es gibt in diesem Zentrum ungefähr 100 kulturelle Programme für Schüler, Erwachsene und für kleine Kinder ab 1 Monat. Dorthin kommt nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern dorthin auch kommen die Odessiter. Dort hat uns Frau Mala Arnauts´ka getroffen. Mit Frau Arnauts´ka haben wir das Zentrum mit einer wunderschönen Ausstellung besichtigt. Sie hat uns gezeigt und erzählt was sie da machen, über die jüdische Religion viel erzählt, über jüdische Traditionen etc. Wir haben auch das Ханукия kennengelernt. Das ist ein Gegenstand, den man im Laufe eines Festes anzündet. Es gibt neun Kerzen insgesamt. Die neunte Kerze unterscheidet sich von den anderen und sie wird Arbeitskerze genannt. Das symbolisiert den Anfang des Festes. Man zündet diese Kerzen in den Orten an, wo es nie bis jetzt gemacht wurde, z. B. in Krankenhäusern, an den Straßen usw. Die Ханукия zünden nur die Männer an. Anschließend sind wir in einen Raum gegangen, wo wir noch einmal verschiede Aspekten die typisch für die Juden sind, diskutiert haben. Unsere Gruppe hat Fragen an Frau Arnauts´ka gestellt und mit großer Aufmerksamkeit haben wir zugehört. Die Zeit war ja auch begrenzt, sonst hätten wir mit Frau Arnauts´ka noch länger diskutieren können. Nachdem sind wir in eine Kneipe in Staatzentrum gegangen wo wir alle gemütlich saßen und eine schöne Unterhaltung hatten. Es war noch ein Tag an dem wir sehr viele Informationen und Wissen gesammelt haben. Der Tag bleibt uns in guter Erinnerung. Um 9:30 Uhr trafen wir uns wieder vor der Oper für das Projekt „Meine Identität in der Stadt“, das als experimenteller Workshop gestaltet werden sollte. Geleitet haben es Cédric und Anja Lange. Um nicht den Rahmen des Artikels zu sprengen werden wir hier nur drei der Gruppen vorstellen.
Eine Gruppe hat bei der Bank 15 Hrywnja in 1,2 und 5 Kopijok gewechselt und daraus vor der Oper einen Smiley geformt. Dazu hat die Gruppe ein Schild mit der Aufschrift „Nimm ein Lächeln mit!“ gemalt. Daraufhin beobachtete die Gruppe was passiert und dokumentierte Alles mit einem Smartphone und zeichnete es in einem Zeitraffer-Video auf. Eine weitere Gruppe hat sich mit den Genderfragen befasst. Die Gruppe hat ein großes Bettlaken als Leinwand genutzt und folgende Fragen drauf geschrieben, die sie dann die Passanten auf der Straße gefragt haben 1) Ist es leicht eine Frau zu sein? 2) würdest du dein Geschlecht für eine Woche tauschen wollen? 3) was wäre wenn…? Als Belohnung gab es einen Keks :) Und die dritte Gruppe klebte in den unterschiedlichen Café-Toiletten Post-its auf die Spiegel, die z.B. mit den Sätzen: „Ich schätze dich!“ («Я ценю тебя!»), „Du bist ein starker Mensch!“ («Ты сильный человек!»), oder „Ich glaube an dich!“ («Я верю в тебя!) beschriftet waren. Dazu hat die Gruppe sich den Hashtag #positivecharkiv ausgedacht und sich dann mit den Post-its fotografiert und diese auf den Sozialplattformen mit dem Hashtag verlinkt. Alle Erfahrungen, die wir in der Gruppe in den oben genannten Projekten gemacht haben, haben wir dann noch mal im Kollektiv gesammelt. Es gab noch ein Paar kurze Reflektionsübungen und anschließend durften wir wieder ins Hostel zurück, um unsere Sachen zu packen, denn wir mussten den Zug um 17 Ihr von Charkiwer Bahnhof nehmen – es gab wieder einen Tapetenwechsel: ODESSA! P.S.: Eine weitere unvergessliche Erfahrung und definitiv ein Rekord, den wir aufgestellt haben, war: zu 18 Personen in einem Coupé zu feiern. Grund dafür war, dass wir alle gemeinsam Lenas Geburtstag, die am 04.09. geboren wurde, und Danas Geburtstag, die am 05.09. geboren wurde, mit viel Wein aus Moldavien und der Ukraine raus und reingefeiert haben! Das war der perfekte Abschied von Charkiw und der perfekte Anfang in Odessa. Um 11 Uhr haben wir uns auf der Sumskaja Straße 25, direkt vor der Oper, getroffen, da wir uns gemeinsam den ArtiShop Jahrmarkt anschauen wollten, der vom 1.-3. September je von 11-19 Uhr geöffnet war. Dort konnte man tolle Sachen, die alle handgearbeitet waren, für die Liebsten zu Hause für einen günstigen Preis erwerben. Es gab z.B. schönen Schmuck, aus Holz oder aus den unterschiedlichsten Steinen. Souvenirs, wie Anhänger mit ukrainischen „Wischewanka“ Muster, oder die unterschiedlichsten Magnete, aber auch Accessoires, wie selbstgehäkelten Schmuck, Spielzeug für Kinder und Kosmetik.
Um 12 Uhr stand der „Immersion Day“ auf dem Ablaufplan, auf den wir uns schon alle sehr gefreut hatten. Einen Tag zuvor wurden wir per Losverfahren in Gruppen eingeteilt. Hier zwei Erfahrungsberichte: „Immersion Day“ bei Olesja Iwaschina: Debora, Lena und Nadja hatten die Möglichkeit Olesjas Familie kennenzulernen. Zudritt haben wir Lesjas Haus erreicht, von wo wir auch abgeholt wurden. Danach haben uns die Mutter und der Bruder, Pascha zu Hause empfangen. Als wir ins Haus eingetreten sind, haben wir sofort eine angenehme Atmosphäre gespührt. Man hat uns zu Tisch eingeladen und uns gezeigt, was wir heute essen werden. Die erste Speise war die typische ukrainische Suppe -Borsch. Olesjas Mutter hat uns erzählt, wie man die Suppe kocht und welche Zutaten man dafür braucht. Der Borsch war selbst von der Mutter gemacht und besonders gut geschmeckt hat es uns auch. Dann hat Pascha die zweite Speise geholt, Fleisch, Püree und den berühmten Salat -Oliwje. Die Hauptspeise hat Pascha selbst zubereitet. Danach haben wir Tee getrunken und Kuchen gegessen. Was uns allen gut gefallen hat, war dass es viel zu besprechen gab. Man hat viel über das Essen, die Familienbräuche, die Sprache, die Kultur und die Lebenserfahrumg gesprochen. Was auch sehr angenehm war, war dass die Gespräche immer mit Humor gemischt wurden. Nach dem Essen und unseren Gespächen hat uns Olesja ihre Wohnung gezeigt. Am Ende des Besuchs haben wir einander die Geschenke überreicht. Die Mutter hat Debora die Büchsenmilch geschenkt, die besonder lecker in der Ujraine ist. Nun hieß es Abschied nehmen - wir haben uns von der Mutter verabschiedet und sind noch ein bisschen mit Lesja und Pascha spazieren gegangen. Sie haben uns das Gebiet gezeigt. Nachdem Spaziergang haben wir uns von den beiden verabschiedet und sind zur unserer Gruppe zurückgefahren, um unsere Erfahrungen und Eindrücke den andern mit zu teilen. „Immersion Day“ bei Anastasia Dovgopolova: Dana, Sweta, Vera und ich, Marianna, durften Anastasias Heim kennenlernen. Nastja hat uns an der Oper um 12:30 Uhr abgeholt und ihre Mutter erwartete uns schon mit vielen selbstgemachten Wareniki. Sie wohnen keine 20 Minuten vom Zentrum entfernt, worüber wir uns sehr freuten, da wir schon einen riesigen Hunger hatten. Dann endlich in den gemütlichen vier Wänden angekommen, haben wir die Berge von Wareniki gesehen und konnten unseren Augen kaum glauben! Es gab Wareniki mit Sauerkraut, Kartoffeln und Schmand und als Nachtisch gab es selbstverständlich auch Wareniki, nur dieses Mal in süßer Form. Wir als Gäste durften selbst den Teig kneten und dann die runden ausgeschnittenen Teigförmchen mit etwas Zucker und frischen Pflaumen füllen. Danach wurden sie mit frischer, selbstgemachten Erdbeermarmelade serviert. Dazu gab es einen Tee aus selbst gepflückten Kräutern und Beeren aus dem Wald. Versüßt wurde das Ganze mit dem besten Honig vom Imker von nebenan. Gibt es etwas schöneres? Nein! Das war ein Festmahl, keine Frage! Selbstverständlich kommt man nicht mit leeren Händen zu einer Gastfamilie, die sich soviel Mühe gibt, nach Hause. Jede Gastfamilie hat einen Jutebeutel unserer Sommerschule bekommen, die mit vielen Geschenken befüllt war. In unserem Beutel hatten wir Geschenke aus Moldau, Belarus und Deutschland und einen Wein aus der Ukraine, mit dem wir auf unsere neue Bekanntschaft und hoffentlich weiter verbleibenden Kontakt angestoßen haben. Wir danken Nastja und Ihrer Mutter sehr für die offenen Gespräche und die unbeschreiblich warme und aufrichtige Gastfreundlichkeit. Man fühlte sich willkommen und wertgeschätzt. Das ist unserer Meinung nach heutzutage nicht mehr so selbstverständlich, wie man glaubt. Wir hoffen, dass eine von uns vier irgendwann die Möglichkeit haben wird, sich zu revanchieren! Nach dem Besuch bei der Gastfamilie haben wir uns noch mal alle zusammen in dem Café „Coffee Life“ getroffen, wo uns die Gruppenaufgabe für den nächsten Tag erklärt wurde. Die Aufgabenstellung lautete, dass wir uns in kleine Gruppen aufteilen und uns überlegen sollten, wie und was wir im Stadtbild verändern können, um zum Beispiel die Menschen in Charkiw auf das Thema Gender, oder etwas anderes was uns bewegt, aufmerksam zu machen. Völlig voll vom leckeren Essen und super glücklich sind wird ins Bett gegangen, um fit für den nächsten Tag zu sein. Denn auf der Tagesordnung stand nicht nur unsere Gruppenaufgabe, sondern es ging am folgenden Morgen auch endlich wieder in den Nachtzug. Besonders die deutschen Teilnehmer*innen erwarteten ihn mit Spannung: den Gendertag. Immerhin sollte sich doch so die Gelegenheit ergeben, endlich mehr über die Ansichten über das Thema Gender, über Rollenverteilungen und Stereotype in der Ukraine zu erfahren. Damit die Diskussionen über dieses anspruchsvolle, durchaus kontroverse Thema allerdings nicht zu sehr aus dem Ruder laufen, wurde die Kiewer DAAD-Lektorin Anja Lange eingeladen, die uns durch den ersten Teil des Tages begleitete.
Im obersten Stock der Staatlichen Wissenschaftlichen Korolenko Bibliothek begann unser Tag. Den Anfang machte eine kurze, simpel wirkende Frage: „Bist du gerne eine Frau / ein Mann? Und warum?“. Die Frage war dann doch nicht so einfach, wie anfangs gedacht und schnell begannen die ersten Diskussionen: Habt ihr euch das schonmal gefragt? Ist das nicht eigentlich eine bescheuerte Frag? Seht ihr das anders, weil ihr in anderen Ländern aufgewachsen seid? Im Anschluss beschäftigten wir uns weiter mit der Frage, was denn eigentlich normal ist. An den Beispielen von mehr oder weniger berühmten Menschen, die irgendwie nicht in das binäre System reinpassen, näherten wir uns langsam der Frage nach stereotypen Geschlechterzuschreibungen. Aufgeteilt in Gruppen nach unseren Nationalitäten präsentierten wir, was in unserer nationalen Gesellschaft als typisch männlich und typisch weiblich gesehen wird. Trotz des etwas verkopften Zugang der deutschen Gruppe zeigte sich, dass die Stereotype sich von Land zu Land nun doch nicht allzu sehr unterschieden. Erfreulicherweise betonten eigentlich alle Teilnehmer*innen, dass die vorgestellten Verhaltensweise eben vor allem Klischees waren und sich niemand mit diesen komplett identifizierte. Für weiteren Diskussionen blieb leider keine Zeit, da bereits der nächste Programmpunkt anstand: Das Gendermuseum Charkiw (http://savegendermuseum.com/). Das Museum ist das einzige in Charkiw, der Ukraine, der gesamten ehemaligen Sowjetunion und im Gebiet des damaligen Ostblocks, das sich mit Feminismus und Frauen*Geschichte auseinandersetzt. Ein ziemlich einzigartiger Ort, der leider notorisch unterfinanziert ist und auf nur zwei winzigen Zimmern zugepackt mit Büchern, Kunst, Flyern, und Installationen ist. Von der Stellung der Frau in der Ukraine, über feministische Strömungen in anderen Ländern hin zur Situation von Frauen* während der deutschen Besatzungszeit findet sich hier eigentlich alles. Trotz Aufteilung in zwei Gruppen – eine russischsprachige, eine mit deutscher Übersetzung – blieb viel zu wenig Zeit um allen Ausstellungsstücken, die Aufmerksamkeit die sie verdienten, zukommen zu lassen. Obwohl der Tag schon prallgefüllt war, mussten wir als Gruppe noch weiter. Am Abend spielte die ukrainische Nationalmannschaft im Herrenfußball um die EM-Qualifikation gegen die Türkei. Auch wenn nicht alle Teilnehmer*innen die Fußballbegeisterung der ukrainischen Zusschauer*innen teilten, war dies doch eine spannende und interessante Erfahrung. Die Ukraine gewann übrigens 2:0. Der Donnerstagmorgen stand im Zeichen der Tschernobylkatastrophe vom April 1986. Am Morgen haben wir das Tschernobyl Museum in der Puschkinskaya Straße besucht, das vor ein paar Jahren von Freiwilligen eröffnet wurde. Uns wurde noch einmal die ganze Katastrophe vor Auge geführt, was genau passiert ist und wie die Menschen es damals erlebt haben.
Die Menschen aus vielen Dörfern und Städten, gleich vor den Maifeierlichkeiten, sollten ihre Häuser verlassen und umziehen. Sie durften nichts mitnehmen, weil alle Sachen der gefährlichen Strahlungsaktivität ausgesetzt waren. Was besonders beindruckend war, waren die Erinnerungen von Zeitzeugen, die dies alles miterleben mussten und zu den ersten Atomkatastrophenflüchtlingen der Sowjetunion wurden, wie schnell dies alles ging und welchen Einfluss das Geschehen bis heute auf ihre Gesundheit hat. Auch wurden Geschichten von Rettungskräften aus der ganzen ehemaligen Sowjetunion erzählt, die heroisch ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben um den weiteren Generationen das Leben zu geben. Über dieses Thema könnten wir unendlich sprechen, wegen der Details und Erzählungen, die wir erfahren konnten. Im Großen und Ganzen war das ein unglaublich emotionaler und aufschlussreicher Morgen für alle Teilnehmer. Am Nachmittag ging das Programm weiter mit einer Stadtführung des Stadtkenners und Autors Max Rosenfeld, der die Entstehungsgeschichte Charkiws in launischem Ton erzählte und vor Allem auch viele Anekdoten zur Gründung der ersten Universität außerhalb Russlands im russischen Reich erzählen konnte. Der Donnerstag war aber noch nicht zu Ende, weil gleich danach der Besuch des Nürnberger Hauses stattfand. Nachdem der Leiter des Hauses, das von der sehr aktiven Städtepartnerschaft Nürnberg-Charkiw getragen wird, uns über die Geschichte des Hauses und der Partnerschaft mit Nürnberg erzählt hatte, wohnten wir noch einer kurzen Präsentation mit anschließender Diskussion von Stephan Kehl über seine fast abgeschlossene Doktorarbeit zur „Inklusion von Menschen mit Behinderung in Zentralasien“ bei. Am nächsten Tag besuchte unsere Gruppe das Honorarkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Charkiw und durfte im festlichen Saal einer Präsentation über die Arbeit und die Legitimitaion von politischen Stfitungen beiwohnen. Die Konrad Adenauer Stiftung hat erst vor Kurzem ein Büro in Charkiw eröffnet. Der Leiter des Büros, Tim Peters, konnte gut begründen warum dieses Büro in Charkiw wichtig ist. Die Stiftung hilft auch die Beziehungen mit Europa besonders mit Deutschland zu verbessern. Mit dem Ziel der gründliche Besprechung und politische Analyse von verschiedenen Themen, organisieren sie auch Rundtische, Konferenzen und Diskussionen. Im Rahmen der politischer Bildung macht die Stiftung Seminare und Planspiele. Auf Einladung der KAS durften wir anschließend im Keller des Konsulats im restaurant ordentlich schlemmen und es wurde auch noch emotional diskutiert. Der Tag begann wie immer mit dem Kaffee aus "Aroma Kava" (keine Werbung! da bietet man nur einfach sehr leckeren Kaffee an) und mit dem Gang zur Kharkiv National Automobile and Highway University, wo wir mit dem eingeladenen DAAD-Lektor Stephan Kehl ein ganztägiges Seminar in dem wir uns mit verschiedenen Theorien, wie zum Beispiel der Stigmatheorie auseinandergesetzt haben.
Unsere Bekanntschaft mit Stephan begannen wir mit einem Quiz über der Ukraine (Geschichte, Landeskunde, die Ukraine heutzutage usw.) und einen Rateteil über Herrn Kehl selbst. Durch dieses Quiz erfuhren wir noch ein Paar interessanteste Fakten über die Ukraine (meistens Dank unseren Teilnehmerinnen aus Charkiw und Odessa). Das Seminar teilte sich in drei grobe Themenbereiche: Schauspiel, Stigma und Behinderung. Der erste Teil der Einführung basierte auf dem Werk von Erving Goffmann "Wir alle spielen Theater". Wir haben das Kernkonzept seiner Arbeit (die Struktur und die Eigenheiten der zwischenmenschlichen Interaktion) kennengelernt, die Hauptbegriffe und die wichtigsten Bestandteile der Interaktion (Rolle, Hinter- und Vorderbühne, Ensemble, Regisseur u.a.) besprochen und versuchten diese Begriffe auf typische Berufe anzuwenden. Im Laufe des Seminars hatten wir die Möglichkeit die Rollen, die eine Person oder wohlmöglich wir selbst einnehmen in kleinen Gruppen pantomimisch darzustellen. Dadurch konnten wir uns mit den gehörten Bestandteilen enger auseinandersetzen. Jede Gruppe bekam eine Maske für die Protagonistin bzw. den Protagonisten und die anderen Teilnehmer*innen waren Nebendarsteller*innen. Aufgabe war die verschiedenen Rollen die man hat in zwei verschiedenen Lebenssituationen zu präsentieren. Dabei viel auf, dass manche Rollen sich ganz gut miteinander in Einklang bringen lassen, aber andere miteinander in Konflikt geraten können. Besonders, wenn diese sehr gegensätzlich sind oder zur selben Zeit erfüllt werden sollen. Im zweiten Teil des Seminars und gut gestärkt aus der Mittagspause kommend, haben wir uns mit der Frage Stigma und Stigmatisierung beschäftigt. Es wurde geklärt, was ein Stigma ist, wer in verschiedenen Gesellschaften stigmatisiert wird und was für Folgen das für die soziale Interaktion oder die Identität haben kann. Dabei haben wir die Unterscheidung zwischen sozialer, persönlicher und Ich-Identität kennengelernt. Bei der Zusammenfassung der Stigmatheorie Goffmanns ist aufgefallen, dass nicht alle dieser Theorie zustimmen wollten, da das Stigma als Teil der Person gesehen wird und nicht als etwas konstuiertes bzw. von anderen zugeschrieben. Daher war es sehr interessant die, für uns meist neue, Theorie von Lev S. Vygotskj kennenzulernen. Er beschäftigte sich unteranderem mit den sozialen Dimensionen eines Stigmas. Wir haben uns besonders mit Behinderung und der Sonderpädagogik auseinandergesetzt. So haben wir zum Beispiel herausgearbeitet, dass Vygotskij betont hat, dass eine Behinderung nicht als physiologisches Problem, sondern als soziales Problem gesehen werden muss. Zudem benannte er den gesellschaftlichen Umstand, dass Behinderungen erst durch soziale Interaktionen zu Behinderungen gemacht werden und der Fokus fälschlicherweise oft auf der Krankheit liegt und nicht auf den Möglichkeiten, die eine Person hat. Diese und viele weitere Erkenntnisse konnten wir sowohl aus den Theorien Goffmans als auch Vygotskjs gewinnen. Nach diesem inputreichen Tag und Theorien, die helfen konnten über die eigenen Identität oder auch die Identität anderer mehr zu erfahren, fand der Tag Ausklang im School Pub, der sich ganz versteckt in einem Hinterhof befand und in dem es nur erlaubt nur auf Englisch zu sprechen. Exklusiv für unsere Gruppe durften wir auch auf Deutsch reden. Dort hatten wir einen Quizabend (unerwartet viel Quizze für einen Tag :) ) mit verschiedenen Themen, wie zum Beispiel deutsche Sprichwörter, Jugendsprache, ukrainischer Fußball oder Land und Leute in Deutschland. Es war ein sehr entspannter Abend nach dem intensiven Seminarenthema und Dank der beteiligten Personen des ganzen Tages: Goffman, Vygotsky, Stephan und wie immer Cédric! :) Am Dienstag beschäftigten wir uns im Seminar mit Cedric intensiv mit den Themen Kultur und Identität. Eine wichtige Rolle spielten dabei verschiedene Kulturmetaphern oder -modelle: Eisberg, Zwiebel und Rucksack.
Der Eisberg symbolisiert eine Kultur, von der nur ein sehr geringer Teil an der Oberfläche sichtbar ist, also zum Beispiel typische Gerichte oder Verhaltensweisen. Darunter liegen im Verborgenen die Werte, welche die Grundlage der Kultur bilden. Viele davon sind unbewusst oder schwer in Worte zu fassen. Es kann vorkommen, dass zwei Kulturen gerade dort, unter der Oberfläche, kollidieren und in Konflikt geraten. Im Gegensatz dazu ist das Zwiebel-Modell komplexer und, Vorsicht Wortwitz, vielschichtiger. Die äußere Schicht besteht aus den Symbolen der Kultur. Darunter findet sich die Schicht der Helden. Diese beiden äußeren Lagen der Kulturzwiebel lassen sich auch als Gast recht schnell erkennen und verstehen. Für die “inneren Werte” braucht es dagegen viel mehr Zeit, denn die Rituale und Werte sind selbst für die eigene Kultur oft recht schwer zu erkennen. Daher sprachen wir im Seminar einige Zeit über Rituale am Beispiel der Ukraine, wie die stark durchstrukturierte Fahrt im Nachtzug, das Verhalten in der Kirche oder auch abergläubische Rituale. Außerdem lernten wir noch das Rucksack-Modell kennen, das etwas moderner und individueller ist. Demnach ist der Einzelne nicht, wie in den anderen Modellen, ein Prototyp seiner Kultur, sondern trägt einen individuellen Rucksack mit seinen Werten und Erfahrungen. Dabei können Inhalte flexibler ausgetauscht werden und auch komplexere kulturelle Identitäten ausgedrückt werden. Danach “spielten wir Domino” in einer Kultursimulation, in der einige Spielregeln vorgegeben waren, die Spieler sich aber stumm auf weitere einigen mussten. Es war sehr spannend zu beobachten, wie dabei verschiedene Vorerfahrungen und Ansätze eine Rolle spielten und sich durchsetzten. Am Nachmittag machten wir mal wieder die Erfahrung, dass es doch erstaunlich schwierig ist, in 2 Stunden eine große Gruppe von A nach B zu bewegen und auch noch zu Mittag zu essen. Als das dann endlich geschafft war, ging es im Gorki-Park mit einem Story-Telling-Workshop weiter. Hier erzählte uns Cedric eine Geschichte, deren Personen wir anschließend nach ihrer Sympathie ordnen sollten. Es war erstaunlich, dass später derselbe Charakter bei einigen von uns auf dem ersten und bei anderen auf dem letzten Platz landete. Unsere unterschiedlichen Denkweisen und Wertannahmen wurden dabei deutlich und führten zu regen Diskussionen. Im Gorki-Park gibt es eine lange Seilbahn, die als Anlass für persönliche Gespräche zu zweit diente. Getreu dem Motto “was in der Gondel passiert, bleibt in der Gondel” konnten wir uns intensiv über unsere Herkunft und Identität austauschen. Grundlage dafür war ein Fragenkatalog, der zum Beispiel nach einem Gegenstand aus unserer Kindheit, einer Familientradition und einer familiären Charaktereigenschaft fragte. Das daraus entstehende Gespräch war sehr besonders; doof war es nur, nach 18 Minuten Fahrt von einem wenig sensiblen Mitarbeiter wieder aus der Seilbahn gezogen zu werden. Nach der langen Zeit im Freien konnten wir uns anschließend in einem süßen kleinen Café aufwärmen, uns durch das Tortenangebot probieren und den Tag gemütlich ausklingen lassen. Montag 28.8., Charkiw
Der Montag stand ganz im Sinne unserer Heimat(en). Was ist das eigentlich – Heimat? Nur ein Dach über dem Kopf, da wo die Familie ist oder doch die ganze Welt…? Viele von uns haben bereits in den unterschiedlichsten Städten und Ländern gelebt. Einige andere haben ihre bisherigen Lebensjahre in derselben Stadt verbracht. Viele Gemeinsamkeiten gibt es dennoch. Zum Beispiel haben alle den Wunsch, viel zu reisen oder in der Zukunft ein paar Jahre in anderen Ländern zu verbringen. Die Welt ist zu spannend und aufregend, um dies nicht zu tun, und sei es auch nur für kurze Zeit. Egal, wo wir geboren oder aufgewachsen sind, gelebt und geliebt haben – jede*r von uns hat seine ganz eigene Definition von Heimat. Das kann ein Geruch, Freunde und Familie, das Elternhaus, die Städte in denen man gewohnt hat oder eine Erinnerung sein. All dies kann für jemanden Zuhause bedeuten und ist sehr individuell. Mit Postkarten und Bildern haben wir der Gruppe unsere alte oder aktuelle Heimat gezeigt und an manchen Stellen in Erinnerungen geschwelgt. Auch hier wurde erneut deutlich, dass jede Person ihre eigene Geschichte hat und es keine allgemeine Definition von Heimat geben kann. Am Abend haben wir dann einen gemeinsamen Kochabend veranstaltet, um der Ukraine auch kulinarisch näher zu kommen. Denn Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Es wurde Okroschka, Wareniki mit Kartoffeln und mit Käse und Spinat und zum Nachtisch Blini gekocht. Denn die Küche eines Landes ist schließlich auch ein wichtiges Merkmal der Identität. Mit Wein und selbst zubereitetem Essen auf den Tellern, stießen wir auf weiterhin fröhliche und eindrückliche Tage an! Am Sonntag hat die Gruppe den Jahrmarkt besucht. Der Weg dorthin war schierig. Es hat etwa 4 Stunden gedauert, bis wir endlich unser Ziel erreicht haben. Als wir den Jahrmarkt betraten, haben wir sofort die Atmosphäre des Marktes gespürt. Es wurde getanzt, gesungen und verschiedene Waren verkauft, die eigentlich Symbole der Ukraine sind.
Die Lieder wurden von Kinder gesungen,obwohl manche vom Krieg handelten. Alle Altersgruppen waren auf dem Jahrmarkt vertreten und fast alle trugen die ukrainische Nationaltracht, die sogenannte "Wischiwanka". Das hat natülich auch die Teilnehmer von der Sommerschule angelockt. So war die Folge vom Besuch des Jahrmaktes, dass fast alle Teilnehmer eine solche Wischiwanka kauften. Man hat aber auch das Essen probiert, das besonders lecker war. Der Besuch des Markte war nicht nur eine Freude für die Augen (und den Magen), sondern hat auch ein bisschen mehr zum Verständnis der ukrainischen Mentalität beigetragen. hier klicken. Am nächsten Morgen hatten wir einen dreistündigen Crashkurs in Russisch. Diejenigen, die bereits Russisch sprechen, konnten etwas Ukrainisch lernen. Wir machten uns mit dem kyrillischen Alphabet vertraut, lernten die wichtigsten Wörter auf Russisch/Ukrainisch und versuchten uns an der Aussprache, um für die folgende Zeit in Charkiw und Odessa, zumindest etwas, gewappnet zu sein: Wir prägten uns Wörter und Sätze wie „privet“, „ja ne goworju po-russki“, „ja ne ponimaju, schto wi goworite“ ein und versuchten in der Mittagspause am quirligen Bessarabien-Markt das eben Erlernte sodann gleich anzuwenden.
Danach fuhren wir in das sehr schön am Dnepr gelegene Kunst- und Tourismusviertel Podil wo wir uns mit Dr. André Härtel trafen. Der an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie lehrende Politikwissenschaftler gab uns einen Einblick in die ukrainische Geschichte, die auch zum Verständnis der aktuellen politischen sowie gesellschaftlichen Situation im Land miteinbezogen werden muss. Wir sprachen über den Kontext der Transformation im Land in den 1990er Jahren, die Proteste 2004, die Maidan-Demonstrationen 2013/14 sowie schließlich auch über die Bedingungen der Krimannexion und die okkupierten Gebieten in der Ostukraine. Besonders interessant war die Bewertung des Euromaidans. Bei diesem würde es sich nicht um eine Revolution im klassischen Sinne handeln. Per Definition kennzeichnen sich solche sowohl durch die Umgestaltung der politischen Institutionen wie durch den Wechsel der Elite. Auch wenn es einige Veränderungen in den politischen Institutionen gab, wie die teilweise Umstrukturierung der Ordnungsbehörden, so war leider nur ein partieller Wechsel der politischen Elite zu beobachten. Auch hätte der Maidan zunehmend Rückhalt in der Bevölkerung verloren insbesondere als es zu einer zunehmenden Eskalation der Gewalt kam. Auch darf nicht vergessen werden, das es aufgrund der noch vorhandenen Integrationsfähigkeit der herrschenden Elite zu einer weiteren Delegitimation kam. Als Ansatz der progressiven Umgestaltung der ukrainischen Gesellschaft sprachen wir über die Bekämpfung von Korruption und den Aufbau eines belastbaren Rechtsstaates. Eine Perspektive könnte hier durch die aktive Zivilgesellschaft entwickelt werden, die allerdings schlecht vernetzt sei und so keine übergreifenden Dynamiken auslösen und Synergieeffekte nutzen könne. Anschließend wurden wir von Herrn Härtel durch das Viertel geführt und betrachteten das geschichtsträchtige Unigebäude. Ein besonderes Highlight war dann die Fahrt mit dem Funikular. Nach dem widersprüchlichen Besuch bei Pizza Veterano erkundeten wir weiter die Stadt gemeinsam mit der Organisatorin des deutschen Redner Clubs Kiew, einem Ableger der US-amerikanischen Organisation Toastmasters. Diesen Redner-Club besuchten wir dann am Abend, um mit den Mitgliedern gemeinsam den ukrainischen Unabhängigkeitstag zu feiern - die Straßen Kievs waren voll mit Menschen, Flaggen, Absperrungen und auch Panzern. Die Toastmasters setzen sich für die Förderung der öffentlichen Redekunst ein. So gestaltete sich dann auch der weitere Abend. Nach zwei längeren Reden waren auch wir Teilnehmer*innen der Sommerschule gefragt. Dies war natürlich eine besondere aber auch bereichernde Überraschung, die uns auch wirklich Überwindung kostete: Vor fremden Menschen spontan eine kurze Rede über ein nicht vorbereitetes Thema zu halten ist durchaus anspruchsvoll. Dieser schöne Abend, gefüllt mit neuen Erfahrungen und Bekanntschaften, war ein gelungener Abschluss für unseren ersten Tag in Kiev.
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